Mythen - Geschichte - Medien. Historische, politische und psychische Formationen. 24. Workshop-Kongress Politische Psychologie

Mythen - Geschichte - Medien. Historische, politische und psychische Formationen. 24. Workshop-Kongress Politische Psychologie

Organisatoren
Sektion Politische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP); Walter-Jacobsen-Gesellschaft e.V.; Redaktion der Zeitschrift für Politische Psychologie (ZfPP); Institut für Psychologie an der Universität Kreta; Georgios Galanis
Ort
Rethymno / Universität Kreta
Land
Greece
Vom - Bis
19.05.2005 - 22.05.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Roland Bloch (HoF Wittenberg), Susanne Gesell (Institut für Psychologie, Universität Würzburg), Jens Hüttmann (HoF Wittenberg)

Bereits die Eröffnung des 24. Workshop-Kongresses Politische Psychologie, der vom 19.-22. Mai 2005 an der Universität Kreta in Rethymno stattfand, bot einen direkten inhaltlichen Einstieg in das Tagungsthema "Mythen - Geschichte - Medien" 1. Eingangs wurde nämlich das Grußwort des Staatspräsidenten der Republik Griechenland, Karolos Papoulias, dessen Biographie eng mit dem Zweiten Weltkrieg verknüpft ist, verlesen: Papoulias hatte sich als Vierzehnjähriger der Widerstandsbewegung angeschlossen und sich aktiv am Partisanenkampf gegen die deutsche Besatzung beteiligt. Wie jüngere Debatten und im Verlauf des Kongresses eine Vielzahl der Beiträge der etwa 200 TeilnehmerInnen (u.a. aus Deutschland, Griechenland, Österreich, England, Frankreich und Polen) zeigten, ist dieser Krieg keineswegs ‚historisiert', sondern weiterhin Gegenstand historischer, politischer und psychischer Formationen.

Veranstalter waren die Sektion Politische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) und die Walter-Jacobsen-Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit der Redaktion der Zeitschrift für Politische Psychologie (ZfPP) 2. Gleichzeitig war der diesjährige Workshop-Kongress die Erste Griechische Konferenz Politischer Psychologie, zu der das Institut für Psychologie an der Universität Kreta, vertreten durch Georgios Galanis, Lehrstuhlinhaber am Institut, eingeladen hatte. Dies geschah mit dem Ziel der Gründung einer griechischen Sektion Politische Psychologie. Damit der Hoffnung nach gelungener interkultureller Kommunikation auch in organisatorischer Hinsicht entsprochen wurde, wählten die Veranstalter eine Mischung aus gemeinsamen Foren und Sektionen in englischer, deutscher, griechischer und französischer Sprache.

Thematisch-inhaltlicher und interdisziplinärer Ausgangspunkt war folgendes: Mythen sind eine internationale politische Macht. Sie schüren Ängste und Vorurteile und bedienen psychodynamische Abwehrhaltungen. Komplexe Geschehnisse, aber auch Machtgefälle, werden auf das reduziert, was ein Massenpublikum von ihnen glauben soll. Mythen entwerfen, stützen oder zerstören so das Menschenbild in einer Gesellschaft. Als Mythen des Alltags überziehen sie uns mit einem Netz der Normalität.

Wie unterscheiden wir dann aber Mythos und Erinnerung, Illusion und Einsicht? Was gerät in unwahre Zusammenhänge: Zusammenhänge von Vergessen, Routine, Markt, Konformität oder Hollywood-Drama? Verschlingt ein Strudel ununterscheidbarer Gleich-Gültigkeit jede Art soziokultureller Auseinandersetzung, Reflexion und Verständigung? Die Antwort der Mythen im Sinne von Konflikt und Verunsicherung birgt Gefahren und Versuchungen: Fundamentalismus jeder Richtung, Ausgrenzung und Diskriminierung, Technisierung personaler und interkultureller Begegnungen, Individualisierung gesellschaftlichen Leides, aufgezwungene Identitäten.

Vermeintliche Wahrheiten - entlarvte Mythen?

Gleichzeitig aber besitzen Mythen - so mahnte Gerhard Krebs (Hamburg) in seinen dem Abstractband der Veranstaltung vorangestellten Thesen - eine geradezu existentielle Bedeutung: "Wenn demnach die Teilnehmer des Kongresses sich eifrig darum bemühen werden, vermeintliche ‚Wahrheiten' als Mythen zu entlarven und dadurch 'per ratio' zu liquidieren, sollten sie nicht versäumen, über sinnvollen Ersatz nachzudenken - der nicht nur ein anderer, dem Aufklärer genehmerer Mythos ist. … Wer etwas einreißt, sollte auch für den notwendigen Ersatz die Sorge zu tragen haben und sich der Pflicht stellen, seine Alternativvorschläge zu legitimieren. Wessen Rationalität oder wessen Mythologie entscheidet darüber, welche Mythen bekämpft werden sollen? Alle Mythen? Das hieße, den Menschen den seelischen Boden zu entziehen. Eine grundsätzliche Legitimationsdiskussion erscheint mir unentbehrlich."

Nicht zuletzt deshalb sollte auch nach den Konflikten hinter den Mythen gefragt werden. Gesucht werden sollte nach psychologischen und pädagogischen Interventionen, die einen anderen Zugang öffnen: Wie können Psychologie, Psychotherapie und Sozialwissenschaft ein produktives Verhältnis zu Mythen gewinnen? Welche Einsichten haben wir, welche Forschungsmethoden sind aussagefähig, welche Strategien sind aussichtsreich?

Nationalismus, Antisemitismus und die Aktualisierung von Vorurteilen

Die Priorität dieser Fragen wurde nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass es zum Auftakt des Kongresses um Mythen als historisch und gegenwärtig zerstörerische Kraft ging: In ihrem Eröffnungsvortrag "Nationalism and Myths of Antisemitism" stellten Wolfgang Frindte und Dorit Wammetsberger (Jena) zum einen die historische Kontinuität judenfeindlicher Stereotype und zum anderen neue Facetten des modernen Antisemitismus dar. Der moderne Antisemitismus liefert gegenüber vorangegangenen Formen der Ausgrenzung keine Aussagen über die Existenz der Juden, keine Aussagen über die jüdische Geschichte, keine Aussagen über die jüdische Religion: "Der moderne Antisemitismus gehört zu jenen Mythen, mit denen die Mythenmacher ihre eigene soziale Identität zu konstruieren und zu stabilisieren versuchen."

Zwei weitere Vorträge hatten ebenso "neue" Antisemitismen zum Thema. Andreas Zick (Wuppertal) identifizierte unter dem Titel "Traditional Myths and their Transformation" auf der Basis der Ergebnisse einer schriftlichen Befragung ("Group-Focused Enmity in Germany", n = 2.700) einen "transformed anti-semitism", der sich u.a. in der Kritik an der Politik des Staates Israel zeige und sich dadurch aktualisiere. Was in der öffentlichen Debatte und speziell in der Möllemann-Affäre bislang eher vermutet wurde, konnte Zick mit Daten eindrucksvoll unterlegen: Wer den Staat Israel kritisiert, neigt auch dazu, traditionellen antisemitischen Mythen zuzustimmen, etwa zur Finanzmacht von Juden. Dieser Antisemitismus zieht sich - so Zick - durch alle politischen Lager.

Ebenfalls Ergebnisse aus dem o.g. Projekt interpretierte Beate Küpper (Bielefeld) anhand von Thesen der sozialen Dominanztheorie (SDT) in ihrem Beitrag "Prejudicial Myths and Dominance - A Theoretical Perspective and Empirical Test of Group-Focused Enmity" gegenüber stellte. Aus der Perspektive der SDT wird angenommen, dass Menschen mit hohem Status - die ‚Leistungsträger' der Gesellschaft - Mythen nutzen und unterstützen, um soziale Hierarchien und ihre Überlegenheit zu legitimieren. Dem gegenüber betonte Küpper aber, dass dominierende Gruppen wie Westdeutsche, Männer oder höher Gebildete weniger vorurteilsbeladen seien als dominierte Gruppen wie Ostdeutsche, Frauen und gering Gebildete. Soziale Desintegration wäre insofern als Erklärung für Mythen sozialdarwinistischer Provenienz relevanter anzusehen als die Dominanzorientierung. Leonidas Makris (London) lenkte passend dazu im Anschluss die Aufmerksamkeit auf die Produktion von Diskursen. Makris präsentierte in seinem Beitrag zur "British Press (end of the 20th century): The Myth of Diversity and the Proximity to Polarisation" Ergebnisse einer linguistischen Diskursanalyse britischer Zeitungen der 1990er Jahre, die vor allem eine Depolitisierung der Inhalte und Skandalisierung der Sprache anzeigten. Diese Entwicklungen seien eine Folge der Konzentration von Besitzstrukturen sowie der Kommerzialisierung durch Anzeigen und Werbung sowohl in der Qualitäts- also auch der Populärpresse.

Mythen und Psychoanalyse

Unter dem Titel "Nationalistische Mythenbildung und ideologische Umwertung der Religion" nahm Thanos Lipowatz (Athen) Mythen psychoanalytisch (vor allem mit J. Lacan) unter die Lupe. Lipowatz betonte die gemeinsamen Wurzeln von Religiosität und Nationalismus - beide besäßen das gleiche Potential an Begeisterung, Fanatismus, Gewalt und Mobilisierung. Die Wiederkehr der nationalistischen und religiösen Gegensätze in Osteuropa heute, so Lipowatz, sei ein "Ergebnis der immanenten Widersprüche der Globalisierung sowie der spätmodernen Krise der Identitäten und Werte." Das Problemfeld Mythos und Nation stand auch im Zentrum der Beiträge von Hans Lempert (Hannover) "Zum psychoanalytischen Konzept der nationalen Identifizierung am Beispiel Griechenland", Anja Zückmantel (Göttingen) "Israel. Territorialer Mythos, kollektive Erinnerung und politische Handlungsoptionen" sowie in dem medienwissenschaftlichen Beitrag von Carsten Hennig (Braunschweig) "Kriegs-Projektionen: Der Mythos der Nation und die Aufarbeitung kollektiver Traumata im amerikanischen Kino", der Filmsequenzen nach dem 11. September 2001 analysierte.

Neben der ‚Großüberschrift' Mythos und Nation wurden auch die kulturelle Funktion und die Psychodynamik spezifischerer Mythen diskutiert: So stellte etwa Christine Kirchhoff (Bremen) zunächst den Ödipuskomplex vor. Bei Freud meinte er die Geschichte des sich immer wieder abspielenden Konflikt des Kindes während der genitalen Phase, das sich in ein Elternteil verliebt und das andere vernichten möchte. Kirchhoff vertrat die Position, dass das Geschlecht des Elternteils, in das sich das Kind verliebt, anfangs keine Rolle spielt, da Kinder noch gar nicht in der Lage seien, die Geschlechter genau zu unterscheiden und das eigene Geschlecht zu definieren. Wenn das Kind erkenne, dass es ‚unzulänglich' ist und nur ein Geschlecht hat, erlebt es dies als narzisstische Kränkung, wobei Männlichkeit narzisstisch überhöht, Weiblichkeit hingegen abgewertet wird. Warum das so ist, erläuterte Kirchhoff mit dem Konzept der Nachträglichkeit: Psychoanalyse funktioniert immer nur nachträglich aus der Erinnerung der Patienten. Die Entdeckung des Kindes, dass es endlich und ‚fehlerhaft' ist, wird als Spaltung und Kränkung erlebt. Jedoch erst im Nachhinein interpretieren Jugendliche das Geschlecht als Ursache für alle erlebten Kränkungen. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage, ob es sich bei postmodernen Lebensentwürfen von queer bis transgender, die neue Verarbeitungsmöglichkeiten des Konfliktstoffes Geschlecht anbieten, um eine Ent- oder Remythologisierung des Ödipuskomplexes handele.

"Verbösung", Handys und Trommeln für den Erfolg - Spielarten ‚neuer' Mythen

Deutlich war also geworden, dass Mythen marginalisieren, normalisieren, anleiten, suggerieren, verbildlichen. Aber wie wird eigentlich ausgeschlossenes, unerwünschtes, nicht-normales Verhalten thematisiert? Ina Schmied-Knittel (Freiburg) analysierte in ihrem Beitrag "Satanismus als (Neo-)Mythos - gesellschaftliche Diskurse über okkulte Gefahren" einen Diskurs der "Verbösung", der kaum Anbindung an die real vorfindbare Praxis des Satanismus zeige. Satanismus werde als "dunkle Seite des Menschen" medial vermittelt; verwirrte Zeugen, Expertenzirkel und suggerierte Ritualmorde bis hin zu Kannibalismus produzieren den Ausschluss. So könne das Satanismus-Thema mit allen möglichen Ängsten aufgeladen werden, schließlich bestehe die Gefahr des Satanismus nach den Experten eben darin, dass man nichts über ihn wisse. Offen blieb, welche Bedürfnisse damit im einzelnen befriedigt werden.

Dies war gleich im Anschluss Thema bei Gerhard Mayer (Freiburg), der "Die Figur des Schamanen als modernen Mythos" vorstellte. Mayer präsentierte Facetten des Schamanen in modernen Gesellschaften: heilende Fähigkeiten und alte Stammesmythen kommen heute auch in der Business-Welt zum Einsatz ("Trommeln für den Erfolg"). Askese wird heute auch von Stadt-Schamanen betrieben, die als "urban primitives" durch die Häuserschluchten ziehen. Schließlich begegnen uns Schamanen als DJs in der Raverszene. Dahinter - so Mayer - stecken Bedürfnisse, die in unserer Gesellschaft keinen Platz, in der Figur des Schamanen jedoch eine Projektionsfläche finden.

Eine wichtige Orientierungsfunktion in modernen Gesellschaften leistet die Werbung. Gerald Steinhardt (Wien) analysierte in seinem Beitrag die symbolische Bedeutung des Mobiltelefons anhand von Werbebotschaften in Zeitschriften als Mythen der Spätmoderne. Die vorgeblich instrumentelle Bedeutung des Mobiltelefons (Telefonieren!) gehe in dieser Werbung vollständig verloren. Vielmehr würden bestimmte Gefühlsangebote gemacht: Das Mobiltelefon wird zur Wunscherfüllungsmaschine, zum ständigen Begleiter, auch Lebenspartner, es offeriert Selbstbestätigung. Es erlaubt das "Switchen" zwischen bisher getrennten Welten, permanentes Multitasking zwischen Privatleben und Arbeitsplatz wird zum erwünschten Verhalten. Im Gegensatz zu unübersichtlichen und unsicheren sozialen Beziehungen werde das Mobiltelefon zum zuverlässigen Begleiter stilisiert, das immer ‚für einen' da ist.

Zwei Methoden-Workshops komplettierten den Kongress. Ein Werkzeug zur methodischen Dechiffrierung medial vermittelter Information stellte Lars Gerhold (Kassel) unter dem Titel "Qualitative Filmanalyse mit Atlas.ti: Ästhetische Dimensionen & methodischer Ansatz" vor. Mit Hilfe der Datenanalysesoftware Atlas.ti kann die Kodierungs- und Interpretationsarbeit systematisch dokumentiert und somit nachvollziehbarer werden. Abschließend ging es mithilfe von Gerhards Kleinings Entdeckungsmethodologie bei Jens Hüttmann (Wittenberg) um "Mythen in den Sozialwissenschaften". Gemeinsam mit den TeilnehmerInnen wurden Interviews interpretiert, die Hüttmann mit professionellen ZeithistorikerInnen über ihre wissenschaftliche Praxis durchführt. Dabei interessierte Hüttmann, wie sich die Akteure und das Untersuchungsobjekt wechselseitig beeinflussen: Inwiefern erweisen sich Bezüge auf ‚Objektivität', ‚historische Vernunft' und ‚Professionalität' als Flucht aus der jeweiligen Perspektive, wenn die jeweiligen WissenschaftlerInnen ihre Alltagspraxis etwa als permanenten Konflikt oder gar als "Kampf" (gegen andere WissenschaftlerInnen, gegen die Verwaltung, gegen die Studierenden etc.) beschreiben?

Fazit

Das Thema "Mythen - Geschichte - Medien" traf auf große interdisziplinäre Resonanz, so dass der 24. Workshop-Kongress ein ergiebiges Forum gleichermaßen für PsychologInnen, PsychoanalytikerInnen, PoltikwissenschaftlerInnen, SoziologInnen, LiteraturwissenschaftlerInnen, HistorikerInnen und MedienwissenschaftlerInnen sein konnte. Ein ‚verbindliches' Mythos-Konzept gibt es jedenfalls nicht, wie aus der Vielfalt der Beiträge deutlich wurde. Unabhängig davon, ob dies überhaupt wünschenswert wäre, stellt sich ebenso die Frage nach einem ‚Ersatz' - es sei denn, wir wollen einfach ‚neuen' Mythen aufsitzen. Weitere "Legitimationsdiskussionen" (G. Krebs, s.o.) sind unentbehrlich.

Anmerkungen:
1 Vgl. für das dreisprachige Tagungsprogramm: http://www.soc.uoc.gr/psycho/conference/ sowie http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=3962&sort=datum&order=down&search=mythen+medienythen+medien
2 Für weitere Informationen siehe das von den VeranstalterInnen entwickelte "Portal Politische Psychologie": http://www.politische-psychologie.de sowie die Homepage der Sektion Politische Psychologie im BDP: www.bdp-politische.de

Kontakt

Redaktion Politische Psychologie
Institut für Psychologie I
Universität Hamburg
Psychologisches Institut I
Von-Melle-Park 5
D-20146 Hamburg
Tel.: 040-42838-4732

Email: redaktion@politische-psychologie.de